Der folgende Aufruf wurde im Juli 2020 veröffentlicht und wird von über 40 Institutionen unterstützt (siehe Auflistung unten).

Aufruf zum Wintersemester 2020/21: Ökonomische Bildung reformieren

Econ4Future statt business as usual!​

Im kommenden Wintersemester werden allein im deutschsprachigen Raum wieder hunderttausende Studierende ökonomische Grundlagenveranstaltungen hören. Wirtschaft wird dort anhand von weltweit standardisierten Lehrbüchern gelehrt, die bereits lange vor 2020 als einseitig, wissenschaftlich überholt und die Vielschichtigkeit realer Wirtschaftsprozesse ignorierend kritisiert wurden. So wird beispielsweise erklärt, dass Ökonomie von quasi-natürlichen Gesetzmäßigkeiten und von nutzenmaximierenden Akteuren bestimmt wird. Im Ergebnis entsteht ein harmonisches Marktgeschehen, das sozial-ökologische Aspekte weitestgehend ignoriert.

Die Corona-Krise unterstreicht abermals die Diskrepanz zwischen diesem Lehrkanon und realen, wirtschaftlichen Prozessen. Sie verdeutlicht, dass Ökonomie immer von ökologischen und sozialen Lebensgrundlagen sowie demokratischen Gestaltungsspielräumen abhängig ist. So machte der Lockdown der Marktökonomie deren fundamentale Abhängigkeit von anderen Ökonomien sichtbar, wie z.B. staatliche Infrastrukturen, gesellschaftliche Solidarität und unbezahlte Care-Arbeit. Die besondere Betroffenheit benachteiligter Gruppen oder Regionen legte offen, dass Wohlergehen immer noch maßgeblich durch Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht beeinflusst wird. Dass Gesellschaften durch Umweltzerstörung anfälliger für das Entstehen und die Verbreitung von Pandemien werden, verweist auf die unhintergehbaren Wechselwirkungen zwischen Ökonomie und Ökologie.

Die ökonomische Standardlehre thematisiert all diese Realitäten nicht oder nicht adäquat. Im Falle eines business as usual zum Wintersemester würde deswegen eine weitere Generation von Studierenden daran gehindert, reale wirtschaftliche Probleme verstehen und bewältigen zu lernen – unter anderem jene, die im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie, systemischer Diskriminierung oder der anhaltenden Klimakrise stehen. Eine solche ökonomische Hochschullehre ist nicht zukunftsfähig! Zur Überwindung dieser Krisen braucht es aber dringend zukunftsfähige Ökonom*innen.

Deshalb rufen wir alle Beteiligten – Lehrende, Studierende und Entscheidungsträger*innen – auf, ökonomische Hochschullehre in diesem Wintersemester 2020/2021 zu reformieren. Die gute Nachricht: Es ist machbar! Denn es gibt zahlreiche Ressourcen, die wir nutzen können:

Lehre verändern

Mittlerweile stehen umfassende Sammlungen von Literatur, didaktischen Materialien und Best-Practice-Beispielen einer pluralen, sozioökonomischen Hochschullehre bereit. Wir ermutigen Lehrende, sie als Inspiration für die Vorbereitung ihrer Lehre zu nutzen.

Vernetzung & Austausch

Studierende haben sich nach der letzten Finanzkrise organisiert und als Akteure des Wandels institutionalisiert – beispielsweise im Netzwerk Plurale Ökonomik.

Studierende und Lehrende können sich mithilfe dieser Strukturen vernetzen und gemeinsam an einem Wandel der ökonomischen Hochschullehre arbeiten.

Institutioneller Wandel

Schließlich gibt es eine wachsende Zahl von innovativen Bildungsangeboten, deren Existenz beweist, dass eine Transformation ökonomischer Hochschullehre im Kern eine Frage des pädagogischen und bildungspolitischen Willens ist.

Wir fordern Fakultäts- oder Hochschulleitungen sowie Bildungs- und Wissenschaftspolitiker*innen gleichermaßen dazu auf, sich von diesen Innovationen inspirieren zu lassen und eigene Reformen umzusetzen.

Diesbezügliche Vorschläge wurden erst kürzlich vorgebracht – siehe Debatte. Es ist höchste Zeit, die Voraussetzungen für einen langfristigen institutionellen Wandel ökonomischer Bildung zu schaffen.

Dieser Aufruf wird bereits unterstützt durch:

Abteilung Wirtschaftswissenschaften & Statistik Arbeiterkammer Wien